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“Böllerfreiheit”

Böllerdebatte: Berlins CDU-Chef Kai Wegner will “nicht […] den Familien diese Tradition nehmen”. Hier wird deutlich, worauf sich Konservativismus bei unseren sogenannten Christ-Demokraten bezieht: Die Aufrechterhaltung völlig überholten und unzeitgemäßen Brauchtums, nicht jedoch die Bewahrung der Schöpfung, der Gesundheit, des Gemeinwohls.

Ich finde, wir dürfen nicht, weil einige Hundert Chaoten und Verbrecher Polizei und Feuerwehr angreifen, den Familien diese Tradition nehmen.
Kai Wegner im ARD-Morgenmagazin, 2. Januar 2023

Angesichts des Ausmaßes der Sachschäden, Körperverletzungen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, und Stresswirkung bei Tieren und Menschen empfinde ich es als Hohn, hier noch den Schutz vermeintlicher Familientradition vorzuschieben, statt konsequente Schritte nach vorn zu wagen.

Jetzt ist nicht die Zeit, dass Politik vor Verboten zurückschrecken sollte. Politik kann nicht den Anspruch haben, es allen (jedem Individuum) recht zu machen. Politik muss den Anspruch haben, für alle (die Gesellschaft insgesamt) und auf lange Sicht (also nachhaltig) gut zu sein. Und der Gesellschaft eine nachweislich gefährliche, schädliche, verschwenderische Praxis (alias Tradition) abzugewöhnen, ist sicherlich nachhaltig gut für alle.

Aber lassen wir doch einfach mal den tragischen Begriff “Verbot” außen vor! Strenggenommen geht es nämlich nicht darum, etwas zu verbieten, was allen freien Menschen eigentlich zusteht. Es geht darum, zwei Ausnahmeregelungen auf Sinnhaftigkeit und Aktualität zu überprüfen:

Verkauf von Pyrotechnik an allgemeine Verbraucher (1. SprengV, § 22 (1))
Pyrotechnische Gegenstände der Kategorie 2 dürfen dem Verbraucher […] nur in der Zeit vom 29. bis 31. Dezember überlassen werden.
1. SprengV, § 22 (1)
Abbrennen von Pyrotechnik durch allgemeine Volljährige (1. SprengV, § 23 (2))
Pyrotechnische Gegenstände der Kategorie 2 dürfen in der Zeit vom 2. Januar bis 30. Dezember nur durch Inhaber einer Erlaubnis nach § 7 oder § 27, eines Befähigungsscheines nach § 20 des Gesetzes oder einer Ausnahmebewilligung nach § 24 Absatz 1 verwendet (abgebrannt) werden. Am 31. Dezember und 1. Januar dürfen sie auch von Personen abgebrannt werden, die das 18. Lebensjahr vollendet haben.
1. SprengV, § 23 (2)

Normalerweise ist der Umgang mit Pyrotechnik aus guten Gründen Fachleuten vorbehalten. Aber für 48 Stunden im Jahr erlauben wir uns eine Ausnahme von dieser Regel. Die traurige Realität ist, dass aufgrund dieser Ausnahme an 363 Tagen im Jahr die Regel gebrochen wird. Niemand hindert egoistische Individuen daran, zum Jahresende legal erworbene Sprengkörper zu jeder beliebigen Jahres-, Tages- und Nachtzeit zur Detonation zu bringen. Dafür ist unsere Polizei zu schwach besetzt, sind Nachbarschaften zu eingeschüchtert und die explosiv verpufften Corpora Delicti zu schwer zuzuordnen. Die sprengstoffgesetzliche Ausnahme wird also regelmäßig als Schlupfloch genutzt, die Regel gänzlich auszuhebeln.

Das bringt mich zu dem Schluss, dass unsere heutige Gesellschaft insgesamt nicht in der Lage ist, mit dieser Ausnahmeregelung verantwortungsvoll umzugehen und es besser ist, wenn wir uns von ihr verabschieden, auch wenn viele sich daran gewöhnt haben und sie als Normalität sehen.

Menschen gewöhnen sich an die absurdesten Dinge. Es gab Zeiten, in denen es als selbstverständliches Gastrecht verstanden wurde, in anderer Leute Wohnzimmer und in öffentlichen Einrichtungen rauchen zu dürfen. Die Idee, einmal im Jahr Erwachsenen ohne besondere Qualifikation das Zünden von Sprengkörpern zu erlauben, obwohl jedes Mal Menschen zu Schaden kommen, erinnert mich an den Plot von “The Purge”. Der Vergleich mag überzogen erscheinen, aber so weit hergeholt ist er nicht: Geht es nicht für die meisten Böller-Fans darum, mal so richtig Dampf abzulassen? Und die, die nicht mitmachen wollen, sind die Leidtragenden.

Es ist an der Zeit, dass wir unsere Ansicht überdenken, was wir im Hinblick auf Feuerwerkskonsum als normal und “gottgegebenes” Recht verstehen. Überlassen wir das Feuerwerken denen, die dieses Handwerk beherrschen! Verzichten wir darauf, den Finger unbedingt selbst am Abzug zu haben. Dann können wir auch, ohne dessen Verlust fürchten zu müssen, die professionelle Show genießen. Eine altruistische Gesellschaft könnte eine solche Entwöhnung ohne Verbote “von oben” schaffen. Und du, Deutschland? – Überrasch mich!


Nachtrag 4. Januar: Ich habe ein paar zynische Stellen gestrichen (nicht aus der Historie; suche dort, wer mag). Die Richtung, in die sich die öffentliche Diskussion in den letzten Tagen entwickelt hat, ist schon traurig genug. Ich hatte überlegt, noch ein Follow-up zu schreiben, weil der Böllerwahnsinn nur ein Symptom einer schwer krankenden Gesellschaft ist. Aber ich belasse es vorerst hierbei. Normalerweise befürworte ich reine Symptombehandlung nicht. Aber hier sehe ich nicht nur die Möglichkeit, unkompliziert dem Brandherd Brennstoff zu entziehen, sondern auch einen Schritt in eine bessere Zukunft zu gehen. Also: Schluss mit Sonderregelungen zum Jahreswechsel!

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